György Ligeti

*  28. Mai 1923

†  12. Juni 2006

von Dirk Wieschollek

Essay

Trotz aller technischen und stilistischen Vielfalt, die sich nicht zuletzt der fundamentalen Skepsis gegenüber ideologischen Verhärtungen künstlerischer Ideen verdankt, bestimmen einige Grundkonstanten Ligetis Gesamtwerk: allen voran die leidenschaftliche Faszination für Organisationsformen komplexer Polyphonie (und damit die Aufhebung der vordergründigen Dichotomie von Konstruktion und Chaos), die strukturelle Assimilierung verschiedenster ästhetischer Phänomene aus Musik, Kunst und Wissenschaft im Sinn einer „nicht-puristischen Musik“ (Ligeti, zit. n. Nordwall 1971, 41) sowie die Auffassung musikalischer Wirklichkeit als ein der Zeit enthobener, potenziell objekthaft wahrzunehmender Erfahrungsraum. „Musik als gefrorene Zeit, als Gegenstand im imaginären, durch die Musik in unserer Vorstellung evozierten Raum, als ein Gebilde, das sich zwar real in der verfließenden Zeit entfaltet, doch imaginär in der Gleichzeitigkeit, in allen seinen Momenten gegenwärtig ist. Das Bannen der Zeit, das Aufheben ihres Vergehens, ihr Einschließen in den jetzigen Augenblick ist mein hauptsächliches kompositorisches Vorhaben“ (Ligeti 1988b, zit.n. Burde 1993, 184).

Ligetis künstlerisches Selbstverständnis war seit den späten 1950er-Jahren von der Prämisse einer konstruktiven Durchdringung des Kompositionsprozesses getragen, die mit dem Willen zur ständigen Reflexion und Weiterentwicklung des eigenen musikalischen Materials einherging, ohne den spätestens seit den 1970er-Jahren obsoleten „Fortschrittsmaximen“ der Avantgarde zu folgen. Es schien inspiriert ...